50 Jahre nach dem Bericht der Psychiatrie-Enquête von 1975

Baden-Württembergs Weg zur personenzentrierten Behandlung

Dieter Grupp, Gerhard Längle, Martina Müller-Keitel, Thomas Müller

2025 jährt sich zum 50. Mal die Übergabe des Abschlussberichts der Enquête-Kommission zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik an den Deutschen Bundestag. An der Erstellung des umfassenden Berichts samt Reformempfehlungen waren Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen der Psychiatrie, Vertreterinnen und Vertreter von Wohlfahrtsverbänden und Patientenorganisationen sowie juristische Fachleute beteiligt. Ihre Analyse legte gravierende Missstände in der Psychiatrie hierzulande offen und trug zu tiefgreifenden Reformen bei. Deren erklärtes Ziel war es, die Versorgung psychisch kranker Menschen deutlich zu verbessern und menschenwürdig weiterzuentwickeln.

Die damalige psychiatrische Versorgung krankte unter anderem an überkommenen institutionellen Strukturen: Für einen Großteil der psychisch kranken und behinderten Menschen war ein von der allgemeinen Medizin weitgehend losgelöstes Anstaltspsychiatriesystem zuständig. Dort glich die Versorgung in vielen Fällen eher einer Verwahrung. In Baden-Württemberg wurden die ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten zwar ab Mitte der 1950er in Psychiatrische Landeskrankenhäuser (PLK) umbenannt; das Anstaltsimage haftete ihnen jedoch weiter an. Während die Versorgungspraxis in den PLK nahezu stagnierte, konnte sich die Universitätspsychiatrie dank ihrer Forschung und internationalen Vernetzung kontinuierlich weiterentwickeln. Erst gegen Ende der 1960er Jahre wurden allmählich Aktivitäten zum gegenseitigen fachlichen Austausch zwischen den psychiatrischen Universitätsabteilungen und den PLK aufgenommen (Jahresbericht PLK Wiesloch, 1969).

Der bis in die 1970er Jahre problematische Zustand der deutschen Psychiatrie ist ohne historischen Bezug nicht erklärbar. Der eklatante Rückstand, mit dem die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich aus der Phase des Nationalsozialismus hervorging, setzte sich noch Jahrzehnte fort. Insbesondere die Erinnerungen an die Gräueltaten, die sich während der NS-Zeit in den Heil- und Pflegeanstalten abgespielt hatten, blieben nach dem Zweiten Weltkrieg lange präsent. Das Vertrauen in die psychiatrischen Krankenhäuser war nachhaltig beschädigt, was auch zum Personalmangel in den Einrichtungen beitrug. Reformanliegen gab es zwar schon ab Ende der 1950er Jahre in beiden damaligen deutschen Staaten. Doch in Ost wie in West herrschte unübersehbar ein staatliches Desinteresse an der Versorgung psychisch kranker Menschen. Dieses wurde auch von den Kostenträgern geteilt, womit jegliche Initiative zur Verbesserung der Zustände meist schon im Keim erstickt wurde.

Somit kamen die Enquête-Kommissionsmitglieder Mitte der 1970er Jahre zu einer überaus besorgniserregenden Bestandsaufnahme: Die finanzielle Ausstattung der Großkrankenhäuser mit völlig überdimensionierten Versorgungszuständigkeiten waren äußerst prekär; die veraltete Bausubstanz befand sich infolge von Sanierungsstaus in miserablem Zustand; es gab zu wenig und unzureichend ausgebildetes Personal; die therapeutisch-medizinischen Angebote waren 2 unzulänglich; Patientinnen und Patienten waren in überfüllten Schlafsälen gemeindefern langzeithospitalisiert und hatten kaum Perspektiven auf Entlassung oder gar gesellschaftliche Teilhabe – eine insgesamt dramatische und menschenunwürdige Situation!

Parlamentarischer Anstoß trifft auf eine Psychiatrie-Szene in Bewegung

Vor diesem Hintergrund hatte der Bundestagsausschuss für das Gesundheitswesen am 31. August 1971 eine Sachverständigenkommission eingesetzt, die Empfehlungen für eine Reform erarbeiten sollte. Bei dieser „Enquête“ handelte es sich um ein neues politisches Instrument der damaligen sozialliberalen Regierung.

Breite Unterstützung fand die parlamentarische Initiative auch bei zivilgesellschaftlichen Gruppen, insbesondere Fachkreisen. Bereits 1964 hatte der einige Jahre zuvor gegründete Aktionsausschuss zur Verbesserung der Hilfen für Psychisch Kranke seine „Empfehlungen zur Gestaltung neuzeitlich psychiatrisch-neurologischer Einrichtungen zur Versorgung der Bevölkerung“ vorgelegt. Diese konzentrierten sich auf die Reform der Großkrankenhäuser und forderten die Aktivierung und Ausweitung der bewährten Außenfürsorge. Eine aktive Rolle in der Reformdebatte übernahmen zudem die damaligen Fachgesellschaften, etwa die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), in der sich ab 1970 Vertreterinnen und Vertreter der in der Psychiatrie tätigen Berufe zusammengeschlossen hatten, sowie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie (DGPN), die bereits 1954 als Nachfolgeorganisation des Deutschen Vereins für Psychiatrie (DVP) gegründet wurde und später in der heutigen Fachgesellschaft „Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde“ (DGPPN) aufging. Auch der Deutsche Ärztetag hatte sich 1970 zum ersten Mal mit dem Fach der Psychiatrie und seiner Entwicklung befasst. Darüber hinaus brachten Impulse aus dem Ausland Bewegung in die Psychiatrie. Insbesondere vorangegangene Reformen in Großbritannien und in den USA dienten als Vorbilder.

In dieser Aufbruchstimmung hatten sich im „Mannheimer Kreis“ gesellschafts- und psychiatriekritische Kräfte zusammengetan, um vehement Reformen der Psychiatrischen Versorgung zu fordern. Die 5. Sozialpsychiatrische Tagung des Mannheimer Kreises im Jahr 1972, erstmals gemeinsam mit Patientinnen und Patienten durchgeführt, stieß mit mehr als 1.200 Teilnehmenden auf immenses Interesse und entwickelte sich fortan zur „Massenbewegung“ (Finzen, 2012). Anfang 1971 entstand auch die bis heute sehr engagierte Aktion Psychisch Kranker (APK) unter dem Vorsitz von Walter Picard MdB und der Mitwirkung von Abgeordneten aller Fraktionen des Deutschen Bundestages sowie engagierten Psychiatrie-Fachleuten. Die APK hatte sich auf die Fahnen geschrieben, „mit politischen Mitteln auf eine grundlegende Reform der Versorgung psychisch Kranker in der Bundesrepublik Deutschland hinzuwirken“. Ihr wurde die Geschäftsführung der Enquête übertragen. Die Reformwilligen standen allerdings vor einem „Spektrum von Schwierigkeiten und Verwicklungen, die sich denen entgegenstellen, die eingefahrene Gleise verlassen, Zustände verändern und Besseres verwirklichen möchten“, so beschrieb Caspar Kulenkampff, Vorsitzender der Enquête-Kommission, die damaligen Rahmenbedingungen in seiner Festrede anlässlich Eröffnung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, die der 3 Veröffentlichung der Reformempfehlungen wenige Monate vorausging. Er bezog sich auf zahllose Widrigkeiten auf einem langen Marsch durch die Institutionen, die sein Weggefährte und ZI-Initiator, Heinz Häfner bei der Gründung dieses Modellinstitut für gemeindenahe psychiatrische Dienste und interdisziplinäre Forschung durch beharrliches Vorgehen überwunden hatte.

Die Enquête-Empfehlungen für eine humane und gerechte Psychiatrie

Die Psychiatrie der Zukunft sollte nach Auffassung der Autorinnen und Autoren des Enquête-Berichts „demokratisiert“ werden. Damit war insbesondere eine gemeindenahe und barrierearme Gestaltung der Angebote gemeint. Zentrale Empfehlungen waren darüber hinaus die Umstrukturierung der in die Kritik geratenen Großkrankenhäuser, die Förderung der psychiatrischen Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie die Stärkung von Beratungsangeboten und Selbsthilfegruppen. Man forderte eine getrennte Versorgung von psychisch kranken Menschen einerseits und geistig behinderten Menschen andererseits, wobei sich beide Versorgungsaufgaben als Teile der allgemeinen Gesundheitsversorgung ergänzen sollten. Ein wichtiges Anliegen war die Gleichstellung psychischer und somatischer Erkrankungen. Psychisch Kranke sollten nicht länger als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt werden, sondern wie die somatisch Erkrankten eine würdevolle, bedürfnisgerechte und qualitätsorientierte Behandlung in der medizinischen Praxis, im gesellschaftlichen Diskurs und im Versicherungssystem erfahren. Die „Inquisition der psychisch Kranken“ sollte „zu Ende gehen“ (Häfner, 2003).

Mit ihrem umfassenden Bericht setzte die Enquête-Kommission ein wichtiges politisches Zeichen und markierte einen Meilenstein auf dem Weg in eine zeitgemäße Psychiatrie. Die Umsetzung der Reformvorschläge begann in den Kliniken allerdings nicht erst nach der Übergabe der Empfehlungen. Nah an den Versorgungsstrukturen bemühten sich zahlreiche Akteurinnen und Akteure deutschlandweit in lokalen Initiativen bereits seit geraumer Zeit um Verbesserungen. Da diese in vielen Fällen durch strukturelle und finanzielle Gegebenheiten ausgebremst wurden, machte sich mancherorts allerdings eine gewisse Ernüchterung breit.

Die Psychiatrie in Baden-Württemberg auf Reformkurs

Auch in den baden-württembergischen Landeskrankenhäusern für Psychiatrie strebten viele Beschäftigte aus allen Berufsgruppen nach tiefgreifenden Veränderungen. Zu den Reformwilligen zählte die unter erschwerten Bedingungen arbeitende junge Generation sozialpsychiatrisch ausgerichteter Ärztinnen und Ärzte. Auch mancher Krankenhausdirektor hatte – über lange Zeit vergeblich - gegenüber dem zuständigen Landessozialministerium auf die Missstände hingewiesen und Verbesserungsvorschläge vorgelegt. Das Autorenteam einer Studie zur psychiatrischen Versorgung zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Psychiatrie-Enquête kommen mit Blick auf die Psychiatrische Klinik Zwiefalten zu den dem Schluss, „dass viele der Verantwortlichen […] eine klare Vorstellung davon hatten, wie eine gute, moderne und qualifizierte Behandlung psychisch Kranker aussehen sollte.“ (Croissant, Längle, 2014). Diese Vorstellung implizierte auch eine intensivere Gruppen- und Einzelbetreuung chronisch Kranker, die jedoch angesichts der desolaten räumlichen Lage an Grenzen stieß, sowie eine wohnortnahe Anschlussbetreuung. Belegt sind auch intensive Anstrengungen und jahrelange Kämpfe, die u.a. von Fritz Reimer, damals Ärztlicher Direktor des PLK in Weinsberg, unternommen wurden, um notwendige 4 bauliche Erweiterungen, Sanierungen und menschenwürdige sanitäre Einrichtungen herbeizuführen (Festschrift „100 Jahre“ Klinikum am Weissenhof).

Mit dem Ziel, fachliche Forderungen ohne ministerielle Eingriffsmöglichkeit auch in die Öffentlichkeit tragen zu können, wurde in Baden-Württemberg schließlich der Verein der Krankenhauspsychiater gegründet. Reformansätze in der tagesklinischen und spezialisierten klinischen Behandlung sowie erste Schritte in der Gemeindepsychiatrie, beispielsweise die Einrichtung von Außenwohngruppen, konnten auf diesem Weg schon früh realisiert werden. Zeitgleich zur schrittweisen Öffnung der Krankenhäuser etablierten sich in diesen Jahren auch verbesserte außerstationäre Betreuungsmöglichkeiten, etwa durch ambulante nervenärztliche Versorgung und Nachsorgeeinrichtungen. Die sogenannte Außenfürsorge wurde ausgedehnt und ergänzt durch „Patientenclubs“, die üblicherweise durch Fördervereine unterstützt wurden. Hilfsvereine wurden von Mitarbeitenden der Klinik gegründet, wie beispielsweise 1969 im PLK Weinsberg. Bis heute ist der Weinsberger Hilfsverein ein wichtiger Träger ambulanter und komplementärer Versorgungseinrichtungen im Raum Heilbronn.

Neue Fachkräfte aus den Berufsgruppen Psychologie, Sozialarbeit und Musiktherapie wurden vermehrt ausgebildet und eingestellt. Bereits Mitte der 1960er Jahre wurde beispielsweise in Zwiefalten als Vorläufer der heutigen Ergotherapie eine „Bastelstube“ zur kreativen Betätigung der Patientinnen und Patienten eingerichtet, die wenige Jahre später durch eine Maltherapie ergänzt wurde. Auch am PLK in Wiesloch berichtete man Ende der 1960er Jahre einerseits von der Frustration über nicht voranschreitende Bau- und Sanierungsmaßnahmen, zeigte sich aber andererseits erfreut über die Arbeit der beiden Beschäftigungstherapieabteilungen und das gesteigerte Interesse der Patientinnen und Patienten an der Musiktherapie. Gleichzeitig wurde beklagt, dass ein weiterer Ausbau der Beschäftigungstherapie aus räumlichen und personellen Gründen kaum möglich sei (Jahresbericht PLK Wiesloch, 1969).

Frühzeitig wurden strukturelle Neuerungen auch im PLK Winnenden eingeführt. Dort wagte man nach der Einführung von Begleittherapien wie Musik- und Arbeitstherapie bereits 1966 die Eröffnung der ersten Tagesklinik im Land (Jubiläumsveröffentlichung „175 Jahre Heilanstalt Winnenden“, 2009). Eine breite Umsetzung dieses Modellprojekts wurde später auch im Enquête-Bericht gefordert.

Althergebrachte Strukturen werden mühselig, aber unaufhaltsam überwunden

Ergänzend zur zunehmenden Bedeutung der Fachtherapien setzte sich auch der Einsatz von Psychopharmaka mehr und mehr durch. Wirksame Medikamente standen seit den 1950er Jahren für die Behandlung seelischer Erkrankungen zur Verfügung. Damit hatten sich die Voraussetzungen für einen Wandel weg von einer lediglich verwahrenden hin zu einer therapierenden Psychiatrie deutlich verbessert. „Nach anfänglicher begleitender Pharmakotherapie bei fortgeführten Insulin- und Elektrokrampftherapien wurde die Psychopharmaka ab Mitte der 1960er Jahre das bevorzugte primäre Behandlungsmittel“, erinnert man sich im PLK Emmendingen an diese Umbruchphase in der Therapie.

Eine konsequente und flächendeckende Umsetzung der Reformen ließ jedoch weiterhin auf sich warten und stellte die Reformwilligen auf die Geduldsprobe. Um durch verstärkten Druck auf bremsende politische und administrative Instanzen einzuwirken, erhob der damalige Ärztliche 5 Direktor des PLK Weissenau Günter Hole, öffentlichkeitswirksam Klage und erklärte, er wolle sich „später nicht den Vorwurf machen müssen, geschwiegen zu haben“. Als Beamter stehe er zwar loyal zu seinem Dienstherrn, zum Sozialministerium und zu der Landesregierung in Stuttgart, doch lasse er sich keinen „Maulkorb“ verordnen. Als Arzt habe er „das Maul auf(zu)machen, wenn irgendetwas zum Nachteil der Patientinnen und Patienten geschehe. „Das haben wir Psychiater uns nach dem Untergang der Psychiatrie im Dritten Reich geschworen“.

Trotz aller Schwierigkeiten war der Reformprozess unaufhaltsam in die Wege geleitet. In den nachfolgenden Jahren wurden in der baden-württembergischen Psychiatrie viele solide Verbesserungen, meist mit wenig öffentlichem Wirbel, umgesetzt. Im Folgenden sollen hierfür nur einige Beispiele aufgeführt werden:
Im Rahmen des Landesprogrammes Baden-Württemberg wurden zahlreiche Baumaßnahmen eingeleitet und die fachliche Fortentwicklung in den psychiatrischen Kliniken gefördert. Anders als in anderen Bundesländern, wo mehr psychiatrische Abteilungen in somatischen Krankenhäusern eingerichtet wurden, entwickelten die großen baden-württembergischen Fachkliniken ein Satellitenkonzept für die gemeindenahe Versorgung. Auch Universitätsklinken übernahmen zunehmend regionale Versorgungsverpflichtungen. In ausgewiesenen Modellregionen wie der Stadt Stuttgart und den Landkreisen Reutlingen, Esslingen und Ravensburg wurden gemeindepsychiatrische Konzepte unter Entwicklung und Einbindung von Trägervereinen oder kirchlichen Trägern gemeinsam mit den Kliniken realisiert.

Wegweisende Initiativen für die Verbesserung der lebensweltorientierten Versorgung gingen von einem weiteren Pionier der Sozialpsychiatrie aus, dem ehemaligen Ärztlichen Direktor des ZfP Südwürttemberg Paul-Otto Schmidt-Michel. Er gründete erstmals 1984 in Ravensburg und 1986 in Friedrichshafen zusammen mit Gleichgesinnten gemeindepsychiatrische Verbünde, wie sie seit 2015 auf der Grundlage des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes (PsychKHG) überall in Baden-Württemberg verankert sind.

Ebenfalls in den 1980er Jahren erweiterten fachliche Entwicklungen die therapeutischen Möglichkeiten deutlich: „Zunehmend bestimmte psychotherapeutisches Denken das Handeln im PLK (Emmendingen), was sich sichtbar in der Konstitution des Fachbereiches "Psychotherapie" im Jahre 1985 ausdrückte. Zusätzlich wurden deutlich mehr Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen eingestellt sowie Balint- und später Supervisionsgruppen etabliert.“

In allen Zentren für Psychiatrie im Bundesland etablierte sich über die Jahre hinweg eine facettenreiche Erinnerungskultur, beginnend mit den frühen 1980er Jahren an fast allen Standorten, wie frühe Publikationen, eine Denkmal- und Erinnerungskultur sowie Veranstaltungen zu verschiedenen Anlässen des Kalenderjahres als historische Quellen belegen. Nach Begründung dieses Gedenktags durch den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog wurde erstmals 1996 am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945, der Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere der „Aktion T4“, gedacht. Seither richten die ZfP jährlich Gedenkveranstaltungen aus, zeigen „Haltung“ zu den medizinisch-psychiatrischen Verbrechen während der Jahre des Nationalsozialismus und stehen für Nachfragen der Angehörigen von NS-Opfern zur Verfügung. An vielen ZfP-Standorten werden, 6 etwa mittels schulischer Seminare zum Thema, in geeigneten Formaten Implikationen für die Politik der Gegenwart diskutiert.

In Zwiefalten wurde 2003 ein erstes Psychiatriemuseum gegründet, 2010 in Bad Schussenried in Kooperation mit dem Württembergischen Landesmuseum und den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg eine Dépendance hierzu eröffnet. Das den Opfern der sogenannten Euthanasie gewidmete „Denkmal der grauen Busse“ blockiert symbolisch seit Januar 2007 dauerhaft die „Alte Pforte“ der ehemaligen Heilanstalt Ravensburg-Weissenau, durch die die historischen Busse fuhren. Das Doppel dieses zweifachen Kunstwerks ist seit 20 Jahren im In- und Ausland unterwegs und erinnert an anderen Orten an das genannte NS-Unrecht. Der Forschungsbereich für Geschichte und Ethik in der Medizin (Müller, 2025; Müller u. Schmidt-Michel, 2017) am Klinikstandort Ravensburg/Ulm stärkt das Geschichtsbewusstsein mittels Fort- und Weiterbildung in der klinischen Arbeit der ZfP, organisiert landesweite Tagungen an psychiatrischen Klinikstandorten sowie nationale und internationale historische Fachtagungen

Unternehmerische Weichenstellung ermöglicht moderne Versorgungsstrukturen

Ein regelrechter Modernisierungsschub folgte auf die Rechtsformänderung der ehemaligen PLK zu Anstalten des öffentlichen Rechts verbunden mit der Umbenennung in Zentren für Psychiatrie im Jahr 1996. Die bis dato unselbständigen Landesbetriebe konnten ab diesem Zeitpunkt unter der neuen Firmierung als moderne Gesundheitsunternehmen mit einer Struktur und Organen angelehnt an den privatrechtlichen Sektor auftreten, ihre Betriebsführung deutlich verbessern und eine verlässliche Einbindung in regionale Versorgungsstrukturen anstreben. Über ihren grundsätzlichen Auftrag hinaus konnten die neu geschaffenen ZfP weitere Aufgaben übernehmen. Investitionen und nicht pflegesatzfähige Aufwendungen wurden im Sinne der Dualen Krankenhausfinanzierung weiterhin über den Landeshaushalt bezuschusst. Die ZfP nutzten die neue Flexibilität und weitgehende Unabhängigkeit: Alle Zentren haben in den vergangenen Jahren im Zuge ihrer Unternehmensentwicklung unterschiedliche Beteiligungen an branchennahen Organisationen erworben, die ihren Versorgungsauftrag unterstützen bzw. erweitern oder die regionalen Verbundstrukturen stärken.

Ebenfalls in den 1990er Jahren wurde mit dem Ziel der Dezentralisierung und der gemeindenahen Patientenversorgung die flächendeckende Gründung von Tageskliniken sowie von Psychiatrischen Institutsambulanzen und Medizinischen Versorgungszentren in Angriff genommen. An vielen Standorten der Versorgungsregionen entstanden – teils in Kooperation mit somatischen Krankenhäusern, teils mit gemeinnützigen oder kirchlichen Wohlfahrtsverbänden – neue Außenstellen der ZfP. Diese verbesserten mit niederschwelligen Angeboten die Versorgung psychisch Erkrankter in der Fläche spürbar und wurden durchweg gut angenommen. Jenseits der vollstationären Behandlung brachten diese wohnortnahen Behandlungsmöglichkeiten die bereits im Zuge der Enquête-Reformen angestrebte Enthospitalisierung deutlich voran. Dies gilt in besonderem Maße für die zuletzt, ab 2017 eingeführte Versorgungsalternative Stationsäquivalente Behandlung, kurz: StäB, die sich mittlerweile großer Akzeptanz bei Patientinnen und Patienten, Angehörigen und den Behandlungsteams erfreut. StäB steht heute gleichrangig neben der stationären und teilstationären Klinikbehandlung und bietet dabei im besten Sinne einer konsequent gemeindeorientierten und bedarfsgerechten Versorgung alle Voraussetzungen, um die Akutbehandlung im häuslichen Umfeld auf hohem fachlichem Niveau zu realisieren. (Längle, 2022)

Auch die Stärkung der ambulanten intensiven und gegebenenfalls aufsuchenden Behandlung durch die Teams psychiatrischer und psychosomatischer Institutsambulanzen, die in anderen Bundesländern teils schon etabliert ist, wurde 2024 - nach zähen Verhandlungen - endlich auch in Baden-Württemberg auf den Weg gebracht. Damit haben sich die Voraussetzungen für die konsequente Umsetzung dieser lebensraumorientierten Versorgung im Sinne der Psychiatrie-Enquête nun deutlich verbessert.

Die Psychiatrie als dynamisches Spiegelbild des gesellschaftlichen Wandels

Beim Abgleich der Reformziele des Enquête-Berichts mit der heutigen Realität lässt sich feststellen, dass in Baden-Württemberg über die vergangenen fünfzig Jahren hinweg viel Gutes auf den Weg gebracht worden ist, wenn auch regional in unterschiedlichem Tempo und in spezifischer Ausgestaltung. Wo noch in den Nachkriegsjahrzehnten undifferenziert verwahrt wurde, wird inzwischen personenzentriert und bedarfsgerecht behandelt. Die ehemals auf Langzeithospitalisierung begrenzten Großkrankenhäuser zeichnen sich heute als leistungsfähige Fachkrankenhäuser mit vielfältigen, evidenzbasierten Therapieangeboten und sektorenübergreifenden Versorgungsformen aus. In den Gemeindepsychiatrischen Verbünden ihrer Versorgungsregionen haben sie eine tragende Rolle eingenommen und machen sich für den Ausbau der Vernetzung mit komplementären Leistungserbringern, Hilfenetzwerken sowie Selbsthilfeverbünden stark.

Damit Patientinnen und Patienten möglichst zeitnah von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren können, betreiben die ZfP Versorgungsforschung, kooperieren mit universitären Forschungseinrichtungen und beteiligen sich in den wesentlichen Fachgesellschaften aktiv an der Entwicklung und Aktualisierung medizinischer Leitlinien. Über zahlreiche Initiativen und zielgerichtete Projekte wurde in den vergangenen Jahren nach wirksamen Lösungen gesucht, um die Anwendung von Zwang bei Patientinnen und Patienten mit hohem Aggressionspotenzial und Gewaltbereitschaft zu vermeiden oder zumindest einzudämmen. Die gesetzliche Grundlage des seit 2015 geltenden PsychKHG gepaart mit dem hohen ethischen Anspruch und der Motivation der ZfP-Belegschaft hat zu bedeutenden Fortschritten bei der Achtung von Patientenrechten und Wahrung von Teilhabechancen geführt.

Gleichzeitig stehen die ZfP-Kliniken, insbesondere im forensisch-psychiatrischen, aber auch im akutpsychiatrischen Fachbereich, aufgrund ihres Doppelauftrag der Behandlung und Sicherung bis heute in einem latenten Spannungsfeld, das immer wieder zu Kritik führt und in akute Krisen mündet. Die damit verbundenen Debatten werden in jüngster Vergangenheit nicht selten politisch instrumentalisiert, wobei Errungenschaften, die auch im Zusammenhang mit der Psychiatrie-Enquête erreicht wurden, wieder in Frage gestellt werden. Der Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen Einhalt zu gebieten, das Bewusstsein für Menschenrechte zu stärken und über die Versachlichung der Diskussionen vernunftgeleitete, bedarfs- und patientenorientierte Lösungen aufzuzeigen, sind daher bleibende Reformaufgaben, mit denen sich die ZfP fortlaufend konfrontiert sehen.

Um absehbare Zukunftsaufgaben zu bewältigen und geeignete Voraussetzungen für die damit einhergehende Transformation der psychiatrischen Versorgung zu schaffen, entwickelt die ZfP-Gruppe regelmäßig gemeinsame Strategien. 2024 adressierte die Strategische Jahresplanung 8 der ZfP erstmals die inhaltliche und konzeptionelle Ausrichtung aller Unternehmensbereiche. Neben der Kernaufgabe der Versorgungssicherung stehen auf der strategischen ZfP-Agenda die Förderung der Digitalisierung, die Herstellung von Nachhaltigkeit, die Gestaltung gewaltvermeidender Prozesse sowie öffentlichkeitswirksame Aufklärungs- und Antistigma-Arbeit, die auch die Gewinnung von Mitarbeitenden unterstützen soll.

Die ZfP-Verantwortlichen sind sich einig: Die weitere Gestaltung und Verbesserung der psychiatrischen Behandlung und Versorgung muss die gesellschaftlichen Herausforderungen vorrausschauend und lösungsorientiert aufgreifen. Mit ihrem umfassenden Engagement stellen sich die baden-württembergischen Zentren für Psychiatrie dieser Verantwortung, sowohl in puncto Fachlichkeit als auch beim Einstehen für demokratische Werte – über ihren Versorgungsauftrag hinaus.

Literatur (Auswahl)

Croissant, Daniela und Längle, Gerhard: Psychiatrische Versorgung zwischen Zweitem Weltkrieg und Psychiatrieenquete: Frühe Reformansätze in Württemberg, Psychiatrische Praxis 2014; 41, S. 1-3.

Dörre, Steffen: Konservative Reform vor der Reform? Die Umgestaltung der psychiatrischen Versorgungsstrukturen unter Ausblendung der „Euthanasie“-Vergangenheit, in: Westfälische Forschungen 70, 2020, S. 79-102.

Finzen, Asmus: Erinnerungen an die Anfänge von DGSP und Mannheimer Kreis (1970 bis 1982). In: Finzen, A. (Hrsg.): Erlebte Psychiatriegeschichte Band II – Bewegte Jahre, 2016.

Finzen, Asmus: Auf dem Weg zur Reform – die Psychiatrie-Enquete wird 40. Psychiatrische Praxis 2015; 42, S. 392-396.

Häfner, Heinz: Die Inquisition der psychisch Kranken geht ihrem Ende entgegen. Die Geschichte der Psychiatrie-Enquete und Psychiatriereform in Deutschland. In: Kersting, F.-W. (Hrsg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre. Schöningh, Paderborn 2003, S. 113–140.

Häfner, Heinz und Martini, Hans: Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Gründungsgeschichte und Gegenwart, C.H. Beck 2011. Längle, Gerhard: StäB und die Vision der patientenzentrierten Versorgung, Psychiatrische Praxis 2022; 49: 290-292

Müller, Thomas: Vom Umgang der staatlichen Psychiatrie mit den NS-Krankenmorden. Ein Beispiel aus Baden-Württemberg. In: Skribeleit J., Helm W (Hrsg.) Verdrängt. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, Wallstein Verlag, Göttingen (2025) S. 114-118.

Rudloff, Wilfried: Expertenkommissionen, Masterpläne und Modellprogramme. Die bundesdeutsche Psychiatriereform als Paradefall ›verwissenschaftlichter‹ Politik, Archiv für Sozialgeschichte 50, 2010.

Schmidt-Michel Paul-Otto und Müller Thomas: Zur Geschichte der Gemeindepsychiatrie seit den 1970er Jahren in den südwestdeutschen Landkreisen Ravensburg und Bodensee. In: Müller T, Kanis-Seyfried U., Reichelt B., Schepker R. (Hrsg.) Psychiatrie in Oberschwaben. Die Weissenau zwischen Versorgungsfunktion und universitärer Forschung. Verlag Psychiatrie und Geschichte, Zwiefalten 2017, S. 311-338.